Inseln weinen nicht
Ganz kurz, ganz unaufgeregt, sehr liebenswert und ein bisschen rätselhaft: das ist „Die Insel" von Bruno Coelho. Mit wenigen Farben – Schwarz, Weiß, Rosa und allerhand Schattierungen von Blau - und auch nicht besonders vielen Worten erzählt der brasilianische Zeichner und Musiker die Liebesbeziehung zwischen einer kleinen knopfäugigen Insel im Ozean und den Menschen, die ihr Gesellschaft leisten. Und ja, es ist die Insel selbst, die diese Geschichte erzählt – eine eher ungewöhnliche Perspektive im Bilderbuch!
Der Seefahrer, den es auf die einsame Insel verschlägt, bringt ihr Wärme und einen Hut, Pflanzen und allerhand andere neue angenehme Dinge. Die Insel genießt die Gesellschaft dieses Mannes. Er bereichert sie.
Doch Moment mal – sind wir es im 21. Jahrhundert nicht gewohnt, das Auftauchen des Menschen in Naturräumen negativ zu bewerten? Kennen wir nicht Hunderte von Geschichten, in denen der Mensch Inselparadiese zerstört hat? Sollte die Insel nicht alles daran setzen, den Eindringling wieder los zu werden? – So gelesen, untergräbt Coelhos Erzählung die gängigen Erwartungen. Doch als Gleichnis gelesen, wird die Geschichte rund. Denn kein Mensch, das ist seit John Donnes Zeiten bekannt, ist eine Insel. Coelho fügt hinzu: Auch keine Insel ist eine Insel! Auch sie braucht Gesellschaft, braucht ein Anderes, durch das sie einen Sinn bekommt. Was bedeutet dies nun für uns, im kaputten 21. Jahrhundert? Über diesen Gedanken könnte man mit Kindern, aber auch mit Erwachsenen ins Philosophieren kommen.
Coelho selbst legt auf seiner Website noch eine andere Interpretation nahe: Nach dem Tod seines Vaters fühlte er sich sehr einsam. Eines Tages hörte er eine alte Platte seines Vaters: „I am a Rock (I am an Island)“ von Simon & Garfunkel. „Die Insel“ kann auch gelesen werden als Produkt des Trauerprozesses eines außergewöhnlichen Künstlers und als ein Ausloten der Frage, welche Menschen wir um uns haben wollen. Das ist nicht unbedingt nur Stoff für Kinder.
Besprochen von: Annette Huber